Vom Porträt zur Poesie – Stadtansichten, die berühren
Was ist der Unterschied zwischen einem biometrischen Passfoto und einem Selbstbild auf Instagram? Das eine zeigt Menschen möglichst objektiv, das andere zeigt, wie Menschen gesehen werden möchten. Und genau das gelang dem Fotografen Mario von Bucovich vor 100 Jahren - nicht nur mit Menschen, sondern auch mit Orten. Wie er auf Fotos die Stimmung von Menschen und Orten in den 1920er-40er Jahren einfing, ist derzeit in Mannheim zu sehen.
“Berlin, Paris und anderswo” heißt die Ausstellung, die bis zum 05. Oktober 2025 in der Kunsthalle Mannheim zu besichtigen ist und die meiner Meinung nach viel Aufmerksamkeit verdient. Gezeigt werden Fotografien von Mario von Bucovich, der in den 1920er Jahren bis zu seinem Tod 1947 weltweit tätig war und als einer der bedeutendsten Porträtfotografen der 1920er Jahre gilt. Aber sein Portfolio geht weit darüber hinaus.
Vom Ingenieur zum Porträtfotografen
Bucovich startete mit der Porträtfotografie, als er ein etabliertes Foto-Atelier übernahm. Als Elektrotechniker war er fachfremd, wobei sein technisches Verständnis und die Analysefähigkeit bei der Fotografie sicher hilfreich waren. Dennoch ist es erstaunlich, mit welcher Sensibilität er seine Motive einfing, obwohl er keine künstlerische Vorbildung hatte. Er verstand schnell, dass es weniger um das Abbilden einer objektiven Wahrheit geht, sondern vielmehr darum, wie sich die fotografierten Models fühlten und gesehen werden wollten. Dieses Verständnis für den individuellen Ausdruck kombinierte er mit seinen technischen Fähigkeiten, indem er an den richtigen Stellen mit Licht und Schatten, Helligkeit und insbesondere Tiefenunschärfe arbeitete. So schuf er ausdrucksstarke, ästhetische Bilder, die er dank seiner Fähigkeiten, sich zu vernetzen und seine Produkte zu vermarkten, an eine Vielzahl angesehener Magazine vertrieb. Dadurch erlangte er schnell Bekanntheit und wandte sich weiteren Metiers zu - Stadt und Gesellschaft. Und auch hier setzte er seine Stärken voll ein.
Gesichter der Stadt
Gestartet mit den Gesichtern von Menschen, zeigte er mit seinen Stadtfotografien die “Gesichter der Stadt”. Unter dem gleichnamigen Titel erschienen zunächst zwei Bildbände, die stimmungsvolle, vielseitige und (zumindest damals) ungewöhnliche Seiten von Berlin und Paris zeigten. Und wenn diese Bilder auch schon damals Aufmerksamkeit erhielten, so sind die Fotos heute noch fantastisch anzuschauen. Das liegt an zweierlei: zum einen an der künstlerischen Qualität, zum anderen an der Motivwahl.
Die Poesie des Alltäglichen
Die Motive sind so vielfältig wie die Szenen einer Stadt, wurden aber bis dahin selten gezeigt. Es ist die Alltäglichkeit der Szenen, die berührt und einen in das Leben dieser Städte zur damaligen Zeit eintauchen lässt. Bei den Bildern geht es nicht um Repräsentation. Es geht nicht allein um das Brandenburger Tor, die Goldelse oder das Hotel Adlon. Zu sehen sind auch Büroarbeiter, die am U-Bahnausgang den Regenschauer abwarten. Oder Industriearbeiter, die ein mannshohes Gewinde in den Boden schrauben. Oder Arbeiter aus dem Schlachthaus, die große Geräte verräumen.
Atmosphäre statt Abbild
Der Ausdruck alltäglicher Motive wird durch den richtigen Moment, das richtige Licht, die richtigen Schatten und die richtigen Flächen inszeniert und durch den Einsatz von Schärfe und Unschärfe gesteigert. So entsteht ein Bilderkanon, der mehr über Städte aussagt als das reine dokumentarische Abbilden von Prestigebauten. Eine Brücke in Paris ist im Nebel nur schemenhaft zu erkennen. Eine von hinten oben im Gegenlicht fotografierte Gruppe Menschen, deren Silhouetten und Schlagschatten fließend ineinander übergehen und eigenwillige Konturen auf dem Asphalt bilden.
„In der Kombination aus Motivwahl und Atmosphäre liegt die Stärke der Fotografien von Bucovich. Sie zeigen die Schönheit des Alltäglichen.“
Über Metropolen hinaus
Bucovich hat im Laufe seines Lebens weitere Länder besucht und fotografisch dokumentiert. Dabei sind wertvolle Sammlungen entstanden, denen ethnografische und fotodokumentarische Bedeutung zugesprochen wird. Die Bilder sprechen je nach Land eine eigene Bildsprache. Sie zeigen Menschen in ihren Lebensräumen, in ihren Gebäuden und bei ihren täglichen Handlungen. Zu sehen sind die weißen Häuser auf Ibiza, die Werksarbeiter im BASF-Werk in Ludwigshafen und Büroarbeiter, die schnellen Schrittes durch die Häuserschluchten von Manhattan gehen.
Bucovich hat nicht nur ein Gespür für die richtigen Motive, sondern auch für deren Vermarktung. Sein Metropolenfotobuch von Manhattan trägt den eingängigen Titel „Manhattan Magic“ und zeigt auf dem Cover eine Mischung aus invertierter Stadtansicht und Musterdarstellung, die für die damalige Zeit sicher als sehr ausdrucksstark und besonders wahrgenommen wurde. Er hat auch verstanden, dass er mehr Produkte verkaufen kann, wenn er seine Motive im Postkartenformat anfertigt oder das Format so wählt, dass die Bilder in Standardrahmen passen.
Stadt mit Stimmung
Wer es bis Oktober nicht (mehr) in eine der großartigen Städte schafft und sich ohnehin in der Nähe von Mannheim aufhält, kann mit einem Besuch der Ausstellung in das Flair der 1920er und 1930er Jahre eintauchen und verschiedene Stadt-Stimmungen erleben. Ein Ausstellungsbesuch ist aber auch allen anderen zu empfehlen!
Was ich von Bucovich lerne: Bei den nächsten Urlaubsfotos während eines Städteaufenthaltes sensibel sein. Weniger Selfies, weniger Highlights – stattdessen: Auf die Schönheit und Poesie im Alltäglichen achten. Wirken lassen. Vielleicht fotografieren. Aber vielleicht auch nicht.
Links
https://www.kuma.art/de/audiotour/mario-von-bucovich/webapp/webapp
https://www.axelspringer-syndication.de/artikel/interview-eckhardt-koehn-de