Budapest / Fassadenfest
Inspiriert vom Buch “Nachtzug nach Lissabon” war ich immer davon fasziniert, abends in einen Zug zu steigen und am Morgen tausend Kilometer entfernt in einer neuen Stadt anzukommen. Nachtzugverbindungen in Europa machen es möglich und voilá: Ankunft in Budapest-Kelenföld um 9 Uhr morgens im August. In Budapest erlebt man, wie spannend, vielfältig und politisch Architektur aus Vergangenheit und Gegenwart sein kann.
„Gesichter
erzählen von stolz und trotz
fassaden sind zeugen“
Gesichter
Ganz klar: Wer mit einem Blick für Architektur nach Budapest fährt, erwartet Jugendstilfassaden und Gründerzeithäuser. Diese Erwartung wird von der Stadt über-erfüllt - sie bietet einen Reichtum an Fassaden, die sich nicht wiederholen und an denen man sich nicht sattsehen kann. Einfach in eine Straßenbahn ans Fenster setzen, den Blick nach oben richten und an sich vorbeiziehen lassen, was die Stadt bietet. Es gibt keine Wiederholung. Sozialistische Häuserfassaden mit Klimageräten wie Seepocken auf den Balkonen. Klassizistische Fassaden aus Naturstein. Verschnörkelte, vergoldete Jugendstilfassaden mit goldenen Ornamenten, Mosaiken und Schriftzügen. Der ganze Stadtkern bietet eine Bandbreite an Fassadenformen, -farben, -mustern und -stilen. An diesen Fassaden lässt sich die Geschichte und Stolz ablesen: Ein bisschen Orient, ein bisschen Paris zwischen Klassizismus, Historismus und Sozialismus. Und viel “Neo”: Neobarock, Neogotik, Neorenaissance, Neoromanik. Dabei gibt es keine Scheu vor Stil-Mix. Einige Gebäude vereinen Elemente aus derart vielen Stil-Epochen, dass man etwas ratlos davor steht, während man versucht, das Gebäude historisch einzuordnen oder es doch einfach als Disneyland-Replik zu verorten. Die Vajdahunyad-Burg im Stadtpark ist ein anschauliches Beispiel dafür. Neben dem eklektizistischen Ansatz fallen auch die zahlreichen historischen Gebäude auf, die umfassend saniert oder vollständig rekonstruiert werden. Die Maßnahmen sind überall in der Stadt in vollem Gange: Der Budaer Burghügel, der Justizpalast oder die Zitadelle sind Beispiele dafür. Insgesamt fällt auf, dass kaum Gebäude aus der Nachkriegszeit zu finden sind. Gebäude aus der Zeit ab 2000 finden sich vor allem an den Rändern der Stadt, so rund um den Bahnhof Kelenföld oder im Süden der Stadt, wo große Wohn- und Gewerbegebiete entstehen.
erzählen von Stolz und Trotz
Architektur erzählt Geschichte
Wer den Ausdruck der Fassaden auf sich wirken lässt und sich parallel mit der Geschichte der Stadt beschäftigt. Wer Bilder aus der Zeit von 1945 sieht und das Ausmaß der damaligen Zerstörung betrachtet. Wer den Budaer Hügel hinaufsteigt, am Gellert-Bad vorbei, mit Blick auf die Zitadelle. Wer die Höhlen der Stadt besucht - der stellt eine Verbindung her zwischen dem Gesicht der Stadt, der Geologie und dem, was die Menschen trotzen mussten und einem daraus resultierenden Nationalstolz, der sich auch in der Architektur zeigt. Die Gebäude wirken schwer, stark, steinern. Der Naturstein als lokales Baumaterial ist überall präsent. Besonders eng wird dieser Zusammenhang bei den unterirdischen Höhlen, z.B. der Felsenkirche (Gellerthöhle), bei den Thermalbädern, wie dem dem Széchenyi- oder dem Gellért-Bad, oder dem Felsenkrankenhaus. Hier sind die Gebäude direkt aus der Geologie heraus entstanden.
Um die Bandbreite der Architektur Budapests zu erleben - eine Architektur-Tour von Alt bis Neu, hier meine Tipps, die besonders Architekturprojekte aus der jüngeren Zeit im Fokus haben.
Parlamentsgebäude Budapest
Parlamentsgebäude Budapest, Entwurf 1883, Entwurf: Imre Steindl
Von außen eindrucksvoll, auch von innen lohnt ein Besuch. Zutritt ist nur im Rahmen einer Führung möglich, die aber kurzweilig ist. Prunkstiege, Sitzungssaal und Kuppelhalle, dazu die Kronjuwelen und die Stephanskrone. Viel Neogotik, viel Gold.
Szervita-Platz, 18.-21. Jahrhundert
Szervita ter 3
All at once: Wer es ganz eilig hat, kann auf diesem Platz Gebäude vom 18. - 21. Jahrhundert versammelt betrachten. Besonders schön ist das Jugendstilhaus, dort unbedingt auch den Giebel bewundern.
Felsenkrankenhaus Atombunker Museum, 1935
Dieses besondere ehemalige Krankenhaus im Höhlensystem von Buda wurde 1935 eröffnet. Die Höhlen sind das Ergebnis des heißen, unterirdischen Thermalwassers, das den porösen Naturstein ausgewaschen hat. In diesen Höhlen baute man die Grundfunktionen eines Krankenhauses: Notaufnahme, Pflegestationen, Untersuchungsräume, Operationssaal, Küche, Büro. Die Räume sind eingerichtet mit Einrichtungsobjekten aus der Zeit um 1940 und Szenen sind mit Wachsfiguren realitätsnah nachgestellt. Das macht den Besuch sehr anschaulich, aber auch beklemmend. Da das Krankenhaus später als Atombunker dienen sollte, kommen im hinteren Bereich weitere Räume hinzu, in denen die Anlagen zu sehen sind, die im Falle eines Atomangriffs zum Einsatz kommen sollten.
Central European University, 2017, Architektur: Sheila O’Donnell und John Toumey
Ein modernes Kleinod inmitten historischer Gebäude, unweit der St. Stephans Basilika. Und zu der fantastischen Architektur kam eine unerwartet politischen Note: Aufgrund von Regierungsvorgaben kann die Universität an diesem Standort keine Studienabschlüsse vergeben, sodass das Gebäude zurzeit (September 2025) der Administration und der Forschung dient. Das Gebäude sticht schon im Straßenzug aufgrund seiner besonderen Fassade heraus: kein Stuck, kein Putz, keine klare Ablesbarkeit der Geschossigkeit, nicht bündig im Straßenzug. Stattdessen: Glatte Oberflächen mit unregelmäßigen, rechteckigen Ausschnitten in Groß und Klein, eine helle, glatte Natursteinfassade, die wie ein aufgefaltetes, aufrecht gestelltes Papier vor- und zurückspringt. Ein Rücksprung ist die gläserne Eingangstür. Im Inneren begreift man schnell, dass dieses Gebäude in eine Lücke zwischen mehreren Bestandsgebäuden geplant wurde und mehrere Häuser miteinander verbindet. Das macht es besonders spannend: neben glatten Sichtbetonoberflächen sind freigelegte Steinwände, durch Türen geht man in neue Räume, die bis zum verglasten Dach offen sind. Um die einzelnen Gebäude miteinander zu verbinden, sind Brücken und und Treppen als dunkelrote Stahlkonstruktionen eingefügt und bilden einen spannenden Kontrast zur übrigen Raumstruktur.
Ethnografisches Museum, Eröffnung 2022, Architektur: Napur Architect
Auf den Fotos wirkt die Geste, die an eine Wippe erinnert, fast etwas albern, weil sie so plakativ ist. Aber vor Ort ist das Gebäude eindrucksvoll. Es macht Spaß, die Muster an der Fassade zu entdecken und besonders die Möglichkeit, auf das begehbare Gründach zu gehen und damit die Perspektive zu wechseln und den Blick auf den Stadtpark (Liget-Park) zu haben, ist toll. Im Museum ist auch ein großes Modell der Stadt - wer einmal die Architektenperspektive einnehmen möchte. Tipp ist, bei Sonnenuntergang das Dach zu besteigen und dann mit Snacks und Getränken auf dem Dachgarten beim Sonnenuntergang zu picknicken, dabei der Musik vom Haus der Musik zuzuhören und den Tango-tanzenden Paaren zuzuschauen. Das alles gibt es ganz ohne Geld. Enjoy.
Haus der Musik, Eröffnung 2022, Architektur: Sou Fujimoto
Ebenfalls im Stadtwald als Teil des Liget-Projekts steht dieses kleine, goldene Gebäude - wie ein Goldnugget im Grünen, der schon von Weitem durch die umgebenden Grünanlagen schimmert. Das Gold des Gebäudes und das Grün der Grünanlagen, dazwischen die ovalen Ausschnitte im Dach, durch die der blaue Himmel zu sehen ist, verleihen dem Gebäude etwas Solitär-märchenhaftes, vor allem, wenn dann noch Musik dazu erklingt. Wer Glück hat, der kann an einem “umsonst-und-draußen” live Konzert auf der Außenbühne teilnehmen. Wie in einem kleinen, modernen Amphitheater, nur dass man auf Betonstufen sitzt, die Bühnenkulisse das Haus der Musik ist, eingerahmt vom goldenen Dach über einem und dem Bambus- und Kiefernwald hinter einem im Licht der untergehenden Sonne. Schön ist das.
MOL-Headquarters, 2022, Architektur: Foster + Partners
Lust auf Strand und Moderne? Am Flava Beach im neu entstehenden Stadtteil “BudaPart” geht beides: Dort befindet sich der MOL-Campus mit dem markanten Bürogebäude von Foster + Partners, auf den man einen guten Blick hat, wenn man auf der gegenüberliegenden Seite am Stand der Donau-Bucht am Kopaszi Damm liegt. Ein Tipp, wenn es in der Stadt zu heiß ist!
Statuen statt Statik - Monumente erzählen mit
Die Fassaden sind eindrucksvoll und ausdrucksstark. Aber das sind auch die zahlreichen Statuen der Stadt, die alleine einen Ausflug wert sind. Neben den Statuen auf der Fischerbastei und der Zitadelle, ist unbedingt ein Ausflug zum Memento-Park empfohlen. Der Memento-Park ist ein Freilichtmuseum, das aus einem Skulpturenpark, einer Ausstellung und gebauten Artefakten besteht. Bei den Statuen handelt es sich um übermenschgroße Skulpturen aus der Zeit des Realsozialismus und der Zeit danach. Der Architekt Ákos Eleőd hat das Ausstellungsgelände entworfen und dabei Ausstellungsarchitektur und Ausstellungsobjekte so miteinander verwoben, dass sie die politische Botschaft vermitteln, dass Sozialismus und Kommunismus letztendlich in einer gesellschaftlichen Sackgasse mündeten. Der Ausstellungsbesuch beginnt mit den Stiefeln Stalins und einem Blick in die Gesichter von Marx und Engels. Man geht vorüber an aussagestarken Skulpturen, die Arbeiter und Arbeiterinnen heroisieren, und endet vor einer gemauerten Wand ohne Öffnung.
Neben diesem Park sind aber auch die zahlreichen Skulpturen in der Stadt Besuche wert - sie zeichnen sich durch ein gestalterische Kraft aus, die emotional berührt.
Fassaden sind Zeugen
Wenn Architektur Politik wird
Fassaden als stumme Zeugen erzählen viel über Geschichte und Gegenwart der Stadt. Um einen Eindruck zu erhalten, ist die erste Empfehlung, sich in die Straßenbahn zu setzen und ab dem ersten Obergeschoss aufwärts die Fassaden an sich vorüberziehen zu lassen. Insbesondere die Straßenbahn 2 fährt direkt an der Donau entlang und bietet ein fantastisches Panorama der Stadt.
Der Architekturkanon und das aktuelle Baugeschehen in Budapest haben deutlich politische Konnotationen, die in der Summe Widersprüchliches aussagen:
Einerseits:
Das Felsenkrankenhaus-Atombunker-Museum, das sehr darauf bedacht ist, Aufklärungsarbeit zu leisten und das Leid von Kriegen betont und didaktisch anschaulich vermittelt.
Das Parlament, in dem zu Beginn der Führung die demokratischen Werte betont werden und darauf hingewiesen wird, dass das Zeigen von Gesten oder Symbolen demokratiefeindlicher Systeme zu einem Hausverweis führt.
Das Memento-Museum, das mit seinen Objekten und seinem Ausstellungsdesign vermitteln möchte, dass Sozialismus und Kommunismus, wie sie im 20. Jahrhundert erlebt wurden, in eine gesellschaftliche Sackgasse münden.
Andererseits:
Die neuen Gebäude im Liget-Park, die als Teil von Orbans nationalistischer Politik kritisiert werden. Ebenso die neu errichteten historischen Gebäude im Budaer Burgviertel, die Nationalstolz zum Ausdruck bringen, indem sie auf frühere, herrschaftliche Zeiten referenzieren. Gebäude aus der Zeit des Sozialismus werden dabei abgerissen und damit auch die Spuren aus dieser Zeit.
Die Central European University, die zwar ein architektonisch beeindruckendes Gebäude in Budapest hat, aber durch die Regierungsvorgaben in der ursprünglich gedachten Form handlungsunfähig gemacht wurde. Sie kann ihren Universitätsbetrieb dort nicht durchführen, wie es noch zur Eröffnung des Gebäudes 2017 gedacht war, und verlagerte stattdessen 2018 den Hauptsitz nach Wien.
Budapest ist widersprüchlich, politisch polarisiert, architektonisch spannend, nahbar, bodenständig, dabei mit großen Visionen. Wer durch die Straßen fährt oder läuft, empfindet es vielleicht wie ich: Die Stadt ist wie ein Elefant mit Einhorn.