Venedig/Vanitas: Endlos schöne Endlichkeit
Gerade aus dem Flieger ausgestiegen, mit dem Flug etwa 200 kg CO₂ verursacht und anschließend mit dem Vaporetto durch die Kanäle einer vom Overtourism bedrohten Stadt gefahren, um eine Ausstellung zu besuchen, die sich mit den Folgen des Klimawandels für Architektur und das gesellschaftliche Leben auseinandersetzt. So geht die diesjährige Architekturbiennale in Venedig.
Biennale 2025: Ein Festival für die Architekturszene
Alle zwei Jahre treffen sich Architekturschaffende und -interessierte in Venedig, um Trends, Entwicklungen und Visionen von Architektur aufzunehmen und zu diskutieren. So auch in diesem Jahr 2025, in dem die von Carlo Ratti kuratierte Ausstellung den Titel trägt: “Intelligens.Natural.Artificial.Collective”.
In den Giardini und dem Arsenale ist eine Fülle von Ausstellungsobjekten, Infotafeln, Installationen, Leinwänden und Videofilmen zu sehen, viele Architektur-Expert:innen mit schwarzen, markanten Brillengestellen und runden Gläsern, mit weiten ⅞-Hosen und akkurat ausgesuchten Farbakzenten in ihrer Kleidung fachsimpeln über die Trennschicht im Fußbodenaufbau des dänischen Pavillons oder versuchen die Stimmung der wehenden Vorhänge des Schweizer Pavillons auf einem Foto einzufangen (ich habe es auch versucht - es hat nicht geklappt). Der Himmel ist Blau, die Sonne wärmt, ein leichter Wind weht und im Schatten der Bäume kann man Espresso oder Aperol Sprizz trinken, bevor man den Ausstellungsbesuch fortsetzt und sich mit den Herausforderungen des Klimawandels in eindrucksvollen Ausstellungen und wunderschönen Pavillons vor atemberaubender Stadt- und Meerkulisse beschäftigt. Schönheit und tiefgreifende Veränderung, Leichtigkeit und Ernsthaftigkeit gehen Hand in Hand. Diese Paradoxie ist sinnbildlich für die fantastische und unfassbar schöne Stadt Venedig.
„Architecture is often seen as the creation of the architect alone. However, architecture ist a collaborative endevaour”“
Meine drei Tipps für den Besuch der Architekturbiennale
Viel ist schon geschrieben worden über die Ausstellungskonzeption und die einzelnen Pavillons. Hier möchte ich drei Tipps und drei Pavillons teilen:
Ein Tag für den Besuch des Arsenale und der Giardini reicht nicht aus. Wenn ihr nur einen Tag habt: Geht in die Giardini. Die Kombination der Pavillonarchitektur, die unterschiedlichen Ausstellungen und das idyllische Ambiente der Giardini machen den Besuch vielfältig, kurzweilig und informativ. Auch wenn das Arsenale ebenfalls beeindruckend ist - dort ist es sehr voll und schon bald ist man nicht mehr aufnahmefähig.
Meine Top-3-Pavillons:
Der deutsche Pavillon: “Stresstest” ist meiner Meinung nach sehr gelungen. Der Pavillon wurde bereits vielfach diskutiert, ich stimme den positiven Beurteilungen zu. Reingehen und wirken lassen.
Der amerikanische Pavillon: Irgendwo stand, es würde sich bei dem Thema “Porch” (deutsch: Veranda) um Eskapismus handeln - ich empfand den Teil als eine sehr gelungene und informative Auseinandersetzung mit der räumlich-sozialen Bedeutung der Veranda. Die bauliche Installation am Pavillon zeigt anschaulich, wie viel Aktivität und Austausch in diesem “Zwischenraum” zwischen Innen und Außen stattfinden kann, während im Inneren des Pavillons eine umfassende Darstellung und Historie zur Bedeutung der Veranda gezeigt wird.
Der dänische Pavillon: Der zu sanierende Pavillon selbst ist das Ausstellungsstück. Das Gebäude ist in seinen Einzelteilen und Schichten zu entdecken und das Thema seiner Ausstellung ist, die Auseinandersetzung mit einer nachhaltigen Form der Sanierung, die alle Bauteile im Sinne des zirkulären Bauens wiederverwerten. Alle Teile für diesen Pavillon sollen erhalten bleiben. Nichts soll die Insel verlassen.
Nicht mit einem Tagesticket (“one-day-pass”) das Gelände der Giardini für ein Mittagessen außerhalb verlassen, wenn ihr wieder zurück wollt - das Ticket erlaubt nur einen einmaligen Zutritt :/.
Schönheit im Verfall - Venedig als Vanitas-Stadt
Die Giardini sind natürlich eine Blase und zum Zeitpunkt der Architekturbiennale eine Architektur-Blase. Aber dann gibt es ja noch die Stadt Venedig selbst, und obwohl ich nicht zum ersten Mal dort war - auch diesmal war es ein “wow”. Wer diese Stadt mit offenen Augen und offenen Gefühlen betrachtet, dem springt die Vergänglichkeit buchstäblich ins Auge: Der Verfall der Palazzi, der enorme Aufwand, mit dem am Erhalt dieser Stadt gearbeitet wird - Bauarbeiten an vielen Stellen - der unverhältnismäßig hohe Aufwand für alles, was in diese Stadt gebracht werden muss und die daraus resultierenden Kosten: Krankenwagen per Boot, Paketdienste, Kofferschlepper, die die Berge von Koffern über die unzähligen Treppenstufen der venedischen Brücken hinter sich herziehen, Marktstände mit Verkauf direkt vom Boot auf die Straße, Holzpfähle, die ständig und überall mit viel Aufwand erneuert werden, Holztüren, bei denen der unterste Meter nahezu komplett verrottetist, Wasser, das direkt an den Türen und Hauswänden der Palazzi steht, abplatzender Putz und auch viel Leerstand - die Vergänglichkeit ist überall. Die Zeit arbeitet gegen die Stadt und der Vanitas-Gedanke ist unübersehbar. Und im Angesicht des Verfalls ist offensichtlich: Die Schönheit der Stadt ist ihre Lebensversicherung.
Die Einzigartigkeit und der Anmut dieser Stadt, ihre sinnliche Opulenz, die Dekadenz - all das ist berührend und faszinierend. Vielleicht ist es genau dieser unvernünftige Luxus: Sich den Erhalt einer fragilen, verfallenden Stadt zu leisten - allein wegen seiner Schönheit - im Angesicht der Vergänglichkeit.
Und vielleicht berührt uns diese Stadt gerade deswegen so sehr, weil sie selbst ausdrückt, wie dicht Schönheit und Vergänglichkeit zusammenliegen und uns dabei an unsere eigene Sterblichkeit erinnern. Wie in einem barocken Stillleben, das Opulenz zeigt – und gleichzeitig den Vanitas-Gedanken in sich trägt: Alles vergeht. Auch das Schöne. Gerade das Schöne.
Und während ich das schreibe, kommt mir der Gedanke, dass möglicherweise auch darin ein Grund dafür liegt, dass Venedig eine beliebte Kulisse für Kriminalromane ist. Bibliografisch liegt die Zahl der Kriminalfälle weit über den tatsächlichen Vorkommnissen. Titel wie “Wenn die Gondeln Trauer tragen”, “Venezianisches Finale”, “Tod in Venedig”, “Herr der Diebe” oder “Mord in Venedig” spielen in Venedig und nutzen die Kulisse, den Charme, die Gassen und Einmaligkeit der Stadt, um ihren Geschichten von Mord, Tod und Geheimnissen als Themen der Vergänglichkeit mehr Bedeutsamkeit zu verleihen.
Reisen in die Endlichkeit
Es ist nicht nur die Schönheit Venedigs, die fasziniert - sondern die Kombination mit dem Ausdruck der Vergänglichkeit von Schönheit.
Und obwohl ich weiß, dass ich durch meine Anwesenheit und meine Anreise Teil des Problems einer Stadt bin, die an Touristen nahezu erstickt - ich würde es wieder tun: Nach Venedig fahren, um Schönheit zu atmen und die Vergänglichkeit der Stadt und des Lebens aufzusaugen. Um darüber zu reflektieren und mit Leichtigkeit und Schwermut im Herzen zurück in meinen Alltag zu kommen.
Welche Stadt berührt dich?