Kids Takeover

Schon bevor ich etwas sehe, höre ich sie: Kinderstimmen, Rufe, Klappern, Kichern, Jauchzen, Klatschen und Singen – alles zur gleichen Zeit und aus verschiedenen Richtungen. Ich betrete den Hauptraum der Ausstellung. Es ist ein dunkler, fast leerer Raum mit harten, reflektierenden Oberflächen und einem kühlen Betonboden. Großformatige Leinwände stehen kreuz und quer, davor sind ein paar rollbare Hocker verteilt. Auf jeder Leinwand öffnet sich eine andere Welt voller Bewegung, Spiel und Energie.

Welche Umwelten Kinder zum Spielen brauchen

Ich gebe zu: Dieser Blogbeitrag trägt einen geliehenen Titel. „Kids Take Over” heißt die Ausstellung des Künstlers Francis Alÿs, die vom 12. April bis zum 3. August 2025 im Museum Ludwig in Köln zu sehen ist. Gezeigt werden Videos von Kindern beim Spielen aus allen Teilen der Welt, drinnen wie draußen, im Winter, im Sommer, im Kriegsgebiet, im schwedischen Wald, auf den Dächern von Hongkong oder in den Straßen von Tokio. 

Raum als Rahmen

Während ich die Videos betrachte, fällt mir auf, wie wenig Raum und Objekte die Kinder brauchen, um ihre Fantasie zum Schwingen zu bringen. Ein Gegenstand, ein Accessoire, Spielregeln und manchmal räumliche Grenzen – mehr ist oft nicht nötig, damit das Spiel zwischen den Kindern entsteht. Der gebaute Raum ist die Kulisse, vor der alles stattfindet, nimmt dabei aber erstaunlich wenig Platz ein. Wenn der Raum eine Rolle spielt, dann ist es meist das Unperfekte, das die Kinder anregt: das Hüpfen über Risse im Straßenpflaster, das Verstecken zwischen kriegszerstörten Häusern oder das Spielen mit Sonnenlicht, das von einer Spiegelscherbe reflektiert wird. Der Raum ist manchmal nur Kulisse, manchmal ein Teil des Spiels. Oft gilt sogar: Je weniger Reize er bietet, desto mehr Raum für die eigene Vorstellungskraft entsteht.

In erster Linie entstehen Spiele aus beweglichen, schnell verfügbaren und vergänglichen Objekten: Stühle, Kisten, Tiere (z. B. Schnecken), Kronkorken, Bonbonpapier, Spiegelscherben oder ein Springseil. Und was sehr viele Spiele eint, sind Kinder in Bewegung. Die Bewegung scheint eine der wichtigsten Voraussetzungen zu sein, die das Spielen im Raum ermöglicht. 

Zwischen Bewegung, einem Alltagsgegenstand und einfachen Regeln entsteht das Spiel der Kinder.

Die Magie der Vorstellungskraft

Am eindrucksvollsten ist das Video „Haram Football” aus dem Irak. Zu sehen ist eine Gruppe Jungen, die auf der Straße Fußball spielen. Im Hintergrund sind zerbombte, leerstehende Häuser, eine Moschee und ein ausgebranntes Auto zu sehen. Steinhaufen auf der Straße markieren die Fußballtore. Dann ertönt der Anpfiff und ein leidenschaftliches Fußballspiel beginnt. Es wird gerannt, Tore geschossen und Bälle gehalten, es wird gefoult und gejubelt – und während des ganzen Spiels existiert der Ball nur in ihrer Vorstellung. Alles, was die Jungen für ihr Spiel brauchen, ist ein Boden und vier Steine als Torpfosten – und jede Menge gemeinsame Imagination. 

Einfachheit schlägt Überfluss

Wer Kinder beim freien Spiel beobachtet, kann sehen, dass einfache Naturmaterialien die Voraussetzungen für ein vertieftes Spiel sein können. Tannenzapfen, Stöcke, Tiere wie z. B. Schnecken, die für das „Schnecken-Wettrennen“ angemalt werden, Sand oder Schnee. Diese sind immer verfügbar, verändern sich, lassen sich bewegen, bemalen oder stapeln und regen Kinder dazu an, spontan Geschichten und Spiele zu erfinden oder sie als Elemente für bekannte Spiele einzusetzen. Besonders beliebt und selbst für Erwachsene noch faszinierend sind Wasser, Feuer und Wind. Bieten wir diese Elemente an, entsteht das Spiel ganz von selbst, auch ohne Regeln.

Elementar und basal

Was zeichnet das Spiel von Kindern aus?

  • Raum: Oft sind Wände und Markierungen Bestandteil der Spielregeln. Beim Wettrennen, beim Verstecken, beim Fangen oder beim Ballspielen. 

  • Elemente der Natur: Wasser (auch als Schnee), Pflanzen und ihre Produkte, Feuer, Erde, Wind

  • Körper(-einsatz): Die Kinder nutzen den gesamten Körper, von den Finger- bis zu den Fußspitzen, sowie Gestik und Mimik.

  • Bewegliche Objekte: Dinge, die rollen, fliegen, gefaltet, ineinander gesteckt oder bemalt werden können.

  • Accessoires: Wenn ein Kind einen Wachposten simuliert, braucht es entsprechende Objekte, die seine Rolle auch äußerlich ablesbar machen.

Es braucht nicht alles gleichzeitig, aber immer etwas davon.

In Konkurrenz mit Smyths Toys, My Toys und Co.: Weniger ist mehr

„Einfaches Spielen“ steht in Konkurrenz zur Spielzeugindustrie. Kinder brauchen zum Spielen eigentlich nicht viel – sie lassen sich aber auch leicht von den bunten, blinkenden und tönenden Produkten aus der Industrie beeindrucken. Daneben erlischt schnell der Reiz des Einfachen. Wir tun gut daran, uns das immer wieder vor Augen zu halten.

Auch die richtigen Möbel können das Spiel der Kinder fördern. Eine Kommilitonin aus meinem Innenarchitektur-Studium entwickelte als Abschlussarbeit ein Spielmöbel: einen simplen „Kistenhocker“ aus Holz mit drei offenen Seiten und zwei Löchern für einen Stab, den man flexibel rein- und rausstecken konnte. Das Möbelstück konnte geschoben, gekippt, beklettert oder als Verkaufsstand genutzt werden. Diese einfache Geometrie erlaubte eine Vielzahl von Spielmöglichkeiten – mehr brauchte es nicht. Diese Reduktion erinnert an die Konzepte von Montessori, Pikler und Steiner, die sich alle für einfache, vielseitige Spielräume aussprechen, die Kinder zu eigener Kreativität ermutigen und ihre Vorstellungskraft, Bewegung und Interaktion stärken.

3 Ideen für Spiel und Ausflug

  1. Spontanes Spiel unterwegs

    Daher kommen hier ein paar Tipps für die nächste gemeinsame Zeit mit Kindern unterwegs: Kannst du ein Boot aus einem Kassenzettel falten, einen Drachen fliegen lassen, einen Kranz aus Gänseblümchen flechten oder COPA aus Kieselsteinen im Biergarten spielen? 

  2. Ausstellungstipp

    Ausstellungstipp: Francis Alÿs – Kids Take Over im Museum Ludwig in Köln

  3. Ausflug plus

    Und wer schon beim Museum Ludwig in Köln ist, muss natürlich zu Fuß (!) die Domspitze erklimmen und den Ausblick auf die Stadt genießen. Achtung: Kein Aufzug - kein Scherz.

Die Kraft des Einfachen

Auch wenn es abgedroschen klingt: Kinder zeigen uns, dass zum Spielen nicht viel nötig ist. Bewegung, Fantasie und wenige einfache Elemente genügen, um ganze Welten entstehen zu lassen. Vielleicht ist genau das der Impuls, den wir als Erwachsene wieder brauchen und von Kindern lernen können.

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