Orte, die bleiben und Menschen, die gehen.

Kürzlich habe ich einen Instagram-Post meiner Schwester gesehen. Es war ein kurzes Video einer Tanzszene aus einem Club, und als Location war das „Amadeus“ verlinkt. Ich war kurz irritiert, denn auch ich bin gerne in einen Club (damals noch „Disco“) mit dem gleichen Namen zum Tanzen gegangen – das war vor 30 Jahren. Ein kurzer Blick ins Netz bestätigte: Das Amadeus ist „seit über 33 Jahren der Studentenclub in Oldenburg!!!“ [sic]. Seit 33 Jahren der gleiche Ort, das gleiche Gebäude, der gleiche Zweck – und sogar der gleiche Name. Menschen sind gekommen und gegangen, das Mobiliar wurde ausgetauscht (wahrscheinlich), das Brandschutzkonzept wurde verschärft, die Preise haben sich geändert (in diesem Fall sogar die Währung), die Musik ist anders. Vieles ist heute anders als damals – eine Pandemie wurde überstanden –, aber der Club in diesem Gebäude ist geblieben.

Erinnerungen und Räume

Wenn ich an diesen Ort meiner Jugend zurückdenke, fällt mir noch mehr ein: Das Foster’s Lager, das ich getrunken habe. Das türkisfarbene Kunststoffhemd, das ich gerne trug. Die große Theke hinten im Raum, die zwei Etagen mit der Galerie und der kleinen Theke oben. Die Freundinnen, mit denen ich dort war. Das Kopfsteinpflaster vor dem Eingang, das oft nass war (Norddeutschland). Die Nervosität am Eingang, ob ich als “Ü16” durchkomme oder meinen Ausweis zeigen muss. Die 5 Mark Eintritt. Der Stempel auf dem Handrücken. 

All diese Erinnerungen und noch mehr werden wach, wenn ich an das Amadeus denke. Und dieses Wachwerden von Erinnerungen ist kein Einzelfall, keine Besonderheit dieses Ortes, keine Besonderheit meiner Erinnerung. Orte und Emotionen sind untrennbar miteinander verbunden, so wie Gerüche Erinnerungen wecken, ohne dass wir bewusst darüber nachdenken.

In einem anderen Artikel habe ich über “Brückenobjekte” geschrieben, also bewegliche Dinge, die wir mitnehmen, um unsere Erinnerungen an andere Orte wachzuhalten, etwa Souvenirs aus dem Urlaub.

Aber Gebäude sind keine Brückenobjekte im klassischen Sinne. Sie sind statisch – und genau das ist ihre Stärke. Metaphorisch gesprochen sind sie die “Brückenpfeiler”. Über Jahre, Jahrzehnte und manchmal Jahrhunderte am selben Ort bilden sie den Rahmen für unsere Erfahrungen, denn Erfahrungen finden immer im gebauten Raum statt. Gebäude sind also zugleich Fundament, Rahmen und Spotlight unserer Erinnerungen – und sie haben die Kraft, Erlebnisse zu verstärken oder abzuschwächen.

Emotionen verstärken Orte. Und Orte verstärken Emotionen.

Wir erinnern uns erstaunlich oft genau an die Orte von Ereignissen, die in unserer Biografie eine wichtige Rolle spielen – und an Orte früherer Routinen. Ein anderes Mal ist die gebaute Umwelt nur ein Hintergrundrauschen. Aber immer ist der Raum, der uns umgibt, wie eine Leinwand, auf der unsere Erinnerungen entstehen. Jede Erinnerung ist mit einem Ort verbunden. Selbst wenn wir uns nicht aktiv an den Ort erinnern – er war da.

Es gibt keine Erinnerung ohne Ort.

Erinnerungen an Handlungen können Details des Ortes hervorrufen. 

  • Der Spielplatz unserer Kindheit, der uns mal langweilig erschien und auf dem ein anderes Mal das Klettergerüst zum Raumschiff oder Reisebus wurde. 

  • Der Schulweg, der sich an einem Tag endlos zog und am nächsten ein Abenteuerweg war – auf dem wir Katzen und Schnecken begegneten, Blumen vom hohen Gras der Zäune pflückten und über die Fugen des Pflasters sprangen.

  • Der Keller, der einfach immer unheimlich war - feucht, dunkel, hinter jeder Ecke eine mögliche unerwünschte Überraschung.

Gerade als Kind sind wir besonders empfänglich für die Eindrücke unserer Umgebung. Wir nehmen Großes und Kleines gleichwertig wahr. Später müssen wir uns aktiv darauf konzentrieren, auch die Details von Räumen wahrzunehmen: Wo sind die Blumen und Tiere? Die Muster im Pflaster? Die versteckten Raumschiffe?

Orte besonderer Ereignisse

Die Verbindung von Emotion und Ort ist besonders stark bei der Erinnerung an besondere Ereignisse: 

  • Der Raum, in dem die Abschlussfeier stattfand.

  • Der Raum, in dem wir geheiratet haben.

  • Aber auch: Wo waren wir, als uns eine traurige Nachricht erreichte? War es hell oder dunkel? Laut oder leise? Privat oder öffentlich? Standen, saßen oder lagen wir?

Wie beim Blick auf ein Polaroid tauchen Details in unserer Erinnerung auf – weil der Moment eine starke emotionale Bedeutung hatte.

Emotion und Ort gehören zusammen.

Vielleicht deshalb werden besondere Orte oft besonders gestaltet: Orte der Freude, des Abschieds, der Entscheidungen, des Wissens. Kirchen, Rathäuser, Universitäten, Bibliotheken. Viele dieser Räume haben einen repräsentativen Charakter. Hohe Decken, besondere Beleuchtung und Lichtsituationen, edle Materialien – all das verstärkt die Atmosphäre. Und genau deshalb werden solche Orte bewusst gewählt.

Damals und heute

Ewigkeit

Ein weiteres Indiz für die Bedeutung, die wir unserer Umwelt beimessen, sind die Spuren, die wir bewusst in der gebauten Umwelt hinterlassen: Die in einen Baum geritzten Initialen an einem Ort, an dem sich etwas Besonderes ereignet hat. Oder die Liebesschlossbrücke in Köln, auf der tausende von Schlössern davon zeugen, wie sich Paare hier ihre Liebe versprechen und hoffen, dass die malerische Kulisse mit dem Kölner Dom, dem Fluss und der Stadt ihrem Versprechen Glück und Ewigkeit schenkt.

Widerstand

Die Verbindung von Ort und Emotion erklärt auch den Widerstand, wenn Gebäude umgenutzt oder gar abgerissen werden sollen. Nicht jeder kämpft für Denkmalschutz, Ökologie oder Ökonomie – oft geht es um persönliche Erinnerungen.

Krankenhäuser zum Beispiel sind hoch emotionale Orte: Hier geht es um Leben und Tod, hier werden Menschen geboren, hier sterben Menschen, hier werden Krankheiten überwunden. Das sind emotionale Ausnahmesituationen. Und gleichzeitig sorgt man sich bei einer drohenden Schließung um die zukünftige Versorgung der eigenen Gesundheit. Es kann sogar sein, dass Familienmitglieder vor Generationen das Krankenhaus mit aufgebaut haben oder heute dort arbeiten - das verstärkt die emotionale Bindung an den Ort, denn Bindung entsteht durch Handeln. Drohende Schließungen von gesellschaftlich wichtigen Einrichtungen und/oder Umnutzungen erzeugen großen Widerstand in der Bevölkerung. Sie können leider auch politisch instrumentalisiert werden.

Identität

Das erklärt auch, warum es uns manchmal an Orte der Vergangenheit zieht: Nachschauen, ob alles so ist, wie man es in Erinnerung hat. Um das Bild zu vervollständigen.

Täter kehren an den Ort des Geschehens zurück. Unfallopfer besuchen die Unfallstelle auf der Autobahn - gegen alle Sinnhaftigkeit. Denn: Die Erinnerung allein reicht nicht aus - manchmal braucht es die tatsächliche Raumerfahrung, damit das Bild der Erinnerung in der Gegenwart scharf wird.

Orte sind stark mit Emotionen und Erinnerungen verbunden, sie sind Teil unserer Biografie und damit unserer Identität. Es zeigt auch, dass bei Zerstörung, Krieg und Flucht den Betroffenen ein Teil ihres Erinnerungsraumes genommen wird. Erinnerungen kann man mitnehmen, Orte und Gebäude lässt man zurück - vielleicht für immer. Damit nimmt man den Menschen auch einen Teil ihrer Identität. 

Reflexion

Es gibt gute Gründe für Umnutzungen und auch für den Abriss von Gebäuden. Bei bevorstehendem Abriss ist wichtig, die emotionale Bedeutung von Gebäuden und Orten für die Menschen nicht zu unterschätzen, die Notwendigkeit der Maßnahmen intensiv zu prüfen und die anstehenden Veränderungen gut zu kommunizieren und dabei die Menschen einzubeziehen. Vielleicht ergeben sich im Dialog neue Nutzungsmöglichkeiten für Gebäude? Die emotionale Bindung der Menschen an ihre Orte birgt auch das Potenzial, auf das Engagement der Menschen zurückgreifen zu können. Dabei geht es nicht um falsch verstandene Erinnerungskultur, sondern gegen vorschnelle Entscheidungen zugunsten von Investoreninteressen.

Erinnern und teilen

Welche Orte sind in deiner Biografie bedeutsam?

Wo warst du, als dich eine besondere Nachricht erreichte?

Erinnerst du dich an die Orte deiner Kindheit?

Bist du an frühere Orte deines Lebens zurückgekehrt – und wenn ja, wie war das?

Hier mache ich etwas Neues: Ich öffne diesen Beitrag für Kommentare und wechsle damit vom Raum-Monolog zum Raum-Dialog. Auch deine Erinnerungen machen die Vielschichtigkeit und Individualität von Erfahrungen sichtbar – und ich würde mich freuen, davon zu hören.

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Mensch im Raum im Buch

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Architektur des Ortes: Wie viel Tradition verträgt die Zukunft?