Mensch im Raum im Buch
In einem meiner Lieblingspodcasts “Alles gesagt” von der ZEIT gibt es das “A-oder-B-Spiel”: Es werden einem Wortpaare genannt und innerhalb von Sekunden hat man sich zwischen zwei Begriffen zu entscheiden.
Was würdet ihr wählen:
Mann oder Frau?
1925 oder 2025?
Am Meer oder in der Stadt?
Frau sucht Mann oder Mann sucht Frau?
Bauhaus oder Neues Frankfurt?
Le Corbusier oder Ernst May?
Eileen Gray oder Ella Burmeister?
Innenarchitektur oder Architektur?
Funktion oder Emotion?
Fotografie oder Zeichnung?
Frankfurt oder Frankreich?
Unikat oder Massenware?
Individuell oder industriell?
M E N S C H oder R A U M?
Heute stelle ich zwei Bücher vor, in denen alle Begriffe eine Rolle spielen. Wer beide Bücher liest, lässt das Entweder-Oder zu einem Sowohl-als-auch werden.
Mensch und Raum – Zwei Bücher, eine Beziehung
In beiden Büchern spielt die zentrale Handlung in den 1920er Jahren, und in beiden Büchern geht es um Architektur, die stark von den Einflüssen des Bauhauses geprägt ist. Die Geschichten zeigen, wie unbedeutend 100 Jahre Entwicklung sein können, wenn es um Architektur und ihren Einfluss auf den Menschen geht. Sie machen deutlich, wie zeitlos das Grundthema der Architektur ist: Architektur und Mensch sind symbiotisch. Doch wer ist der Symbiont und wer der Wirt?
Architektur als sinnlicher Raum – Eileen Grays Vision
An der französischen Riviera entstand zwischen 1926 und 1929 das poetisch anmutende Haus E.1027. Der Entwurf im International Style stammt von Eileen Gray und die Villa ist eine gebaute Liebeserklärung an ihren Lebensgefährten Jean Badovici. Das Buch “Das Haus am Meer” von Joséphine Nicolas erzählt den Entstehungsprozess des Hauses und die persönliche Geschichte von Eileen Gray aus ihrer Sicht.
Das Haus als atmender Körper
Ich möchte die Momente im Buch beschreiben, die von der außergewöhnlichen Beziehung erzählen, die Eileen Gray zu ihrem Haus und zur Architektur im Allgemeinen hatte. Denn obwohl Gray Le Corbusier und seine Arbeit sehr bewundert und eng mit ihm zusammengearbeitet hat, steht ihre Entwurfshaltung im Gegensatz zu Le Corbusiers Aussage “Ein Haus ist eine Maschine zum Leben”. Sie sagt: “Architektur ist ein Körper, der atmet und uns umgibt”. Und diese Einstellung zur Architektur ist in ihrem Haus E.1027 im Ganzen und in jedem Detail sichtbar, hörbar und fühlbar. Ihr Haus ist ein Sinnesraum, der den Menschen in den Mittelpunkt des Entwurfs stellt und das Gebäude in allen Details auf die menschlichen Sinne ausrichtet und so eine Atmosphäre der schützenden Hülle schafft.
Diese Haltung wird schon früh im Buch deutlich, wenn Eileen von Charme als Qualitätsmerkmal in der Architektur spricht: “Als Architekt mögen Sie eine andere Auffassung haben, in einem Künstlerviertel wie diesem tröstet man sich durchaus mit Charme über Bagatellen wie Feuchtigkeit hinweg”, sagt sie in einer frühen Begegnung mit Corbusier.
Die Suche nach der eigenen Architektursprache
Ihr Weg ist eine intensive Suche nach der eigenen Haltung und dem eigenen Ausdruck. Schon früh kritisiert sie, dass es der Architektur Le Corbusiers an Emotionalität und sozialen Qualitäten fehlt. Sie sagt:
“Ich nickte, dachte an la ville contemporaine [...] Fehlten dem Entwurf nicht jene Orte und Bereiche, an denen soziale Aktivität stattfinden oder sich doch zumindest entwickeln könnte? […] Nach einer Weile des Überlegens, es war ganz ruhig im Raum, formulierte ich meine Worte laut: ‘Ich wünsche mir eine Architektur als eine Symphonie, in der alle Formen des inneren Lebens Ausdruck finden.’ Ich orientierte mich an Le Corbusiers Ideen wie an den Vorstellungen der De-Stijl-Leute. Und trotzdem tastete ich mich weiterhin voran, wollte nicht einfach kopieren […]. Ich suchte, um die Grundlage einer neuen Ästhetik zu schaffen. Um ein wenig mehr ich selbst zu sein.”
Für Gray ist die Sinnlichkeit eines Hauses wichtig: “Mir war, als wusste dieser Mann meine Gedanken zu beschreiben. Sinnlichkeit, Zurückgezogenheit, Ruhe. ‘Ein Haus benötigt eine Aura, vielleicht ein anmutiges Schweigen.’ [...] Und sie fährt fort: “ ‘Architektur sollte nichts darstellen, nur sein. Sie selbst sein’ ”.
Emotion und Sinnlichkeit als architektonische Qualität
Nach und nach wird ihr klar, worin sich ihre Entwurfshaltung von der Le Corbusiers unterscheidet: “[...] meine Gedanken [...] basierten häufig auf Intuition, auf Emotion, auf Logik.”, und sie spricht sich “für die Rückkehr des Gefühls” aus.
In dem Buch wird auch deutlich, wie schwer sie es mit dieser Haltung in der männerdominierten Architekturbranche hatte. Dennoch: Sie war eigenwillig und stark genug, ihren eigenen Weg in der Architekturwelt zu gehen und entdeckte schließlich, dass ihre sinnliche, emotionale Vorstellung von guten Räumen keine Schwäche, sondern eine Stärke war - und der Schlüssel zu ihrer eigenen Architektursprache. Gebäude sollten ihrer Meinung nach in ihrer Gestaltung die Gefühlsebene des Menschen ansprechen und seine sinnlichen Bedürfnisse befriedigen. Indem Gebäude die emotionale Wahrnehmung auslösen, würden die Nutzer:innen an ihre eigenen Sehnsüchte erinnert.
“Architektur ist ein Körper, der atmet und uns umgibt.”
Eileen Gray
Das Haus E.1027 ist eng mit ihrer persönlichen Auseinandersetzung mit sich selbst verbunden, es ist Ausdruck ihres sensiblen Wesens und gleichzeitig ein starkes Zeugnis für eine von Grays Fähigkeiten.
“Dieses Haus, ich musste es aus der Stille in mir erdenken.”
Lesetipp + Filmtipp: Das Buch lesen. Am besten im Sommerurlaub, unter Zitronenbäumen, mit Meeresrauschen im Hintergrund und viel Muße. Wenn das nicht geht: Auch im Winter im Bett kann man in die Geschichte eintauchen (spreche aus eigener Erfahrung). Und der passende Filmtipp: “E.1027. Eileen Gray und das Haus am Meer” - eine tolle Ergänzung zum Buch, weil die Architektur auf faszinierende Weise gezeigt wird.
Joséphine Nicolas (2023): Das Haus am Meeresufer. DuMont Buchverlag, Köln.
Architektur erleben: Menschen in den Bildern von Ella Burmeister
Florian Wacker erzählt in “Zebras im Schnee” von der Suche des Kunsthistorikers Richard Kugelmann nach der Geschichte seiner Mutter, die im Frankfurt der 1920er Jahre mit der Architekturfotografin Ella Burmeister befreundet war. Es handelt sich um eine fiktive Geschichte, die sich durch Anleihen und Bezüge zu tatsächlichen Ereignissen und Personen auszeichnet. Sie wird abwechselnd aus der Perspektive des Kunsthistorikers und Ella Burmeisters erzählt, die sich gegen den Widerstand ihrer Familie als Fotografin selbstständig macht. Neben den wichtigen Entwicklungen in der Stadt - unter der Leitung von Ernst May entsteht das so genannte “Neue Frankfurt” - findet Burmeister ihren eigenen fotografischen Stil, in dem sie die Menschen in ihren natürlichen Handlungen in den neu entstandenen Gebäuden in den Mittelpunkt ihrer Fotografien stellt.
Menschen statt Monumente
Das Besondere an den Fotografien von Ella Burmeister fiel dem Kunsthistoriker schon früh auf: “Etwas an den Fotografien ließ ihn nicht los. Es waren nicht die Gebäude des Neuen Frankfurt, die im Mittelpunkt der Aufnahmen standen, sondern die Menschen. Sie posierten nicht, sie gingen ihrer Arbeit nach [...]. Diese Natürlichkeit im Kontrast zur Strenge und Kühle der Gebäude war es, die Richard faszinierte.” Später sagt er:
“Ich hatte die Idee, etwas aufzugreifen, was in den Bildern von Ella sichtbar wird. Das Menschliche neben der Architektur, also diejenigen Leute, die in den Siedlungen und Gebäuden wohnten, die dort gearbeitet haben. Für wen, wenn nicht für diese Menschen, sind die Gebäude und Siedlungen gebaut worden?”
In der Geschichte wird ein Konflikt deutlich, den wir auch heute in der Architekturfotografie diskutieren: Architekt:innen möchten häufig, dass die Fotografien ihrer Gebäude vorzugsweise ohne Menschen erfolgen, weil die Menschen vom eigentlichen Motiv - der Architektur - ablenken. Auch haben die Fotos eine gewisse Zeitlosigkeit, wenn die Gebäude ohne Menschen abgebildet werden. Dagegen wehrt sich die junge Fotografin Ella Burmeister: “Aber für wen baut ihr denn? Für die Kameras? Das ist doch Unsinn, Max, die Menschen gehören dazu.” Und mit dieser Überzeugung machte sie ihre eigenen Bilder..
“Darf ich Sie aufnehmen?”
Ella Burmeister
Die (fiktive) Person und Fotografin Burmeister war keine Architektin, aber ihr gefielen die Gebäude der Moderne. Sie glaubte an die damit verbundene Vision, lebenswerte Räume für viele Menschen zu schaffen. Dennoch zweifelte sie immer wieder daran, ob sie die Richtige sei, diese Gebäude zu fotografieren: “Vielleicht ist meine Aufgabe gar nicht das Große, das Spektakuläre, [...] vielleicht ist meine Aufgabe das einzelne Gesicht, die Hand, ein Mund. Die Wahrheit liegt in den Geschichten der Menschen.”. Die Widerstände, die sie erfährt, erschweren ihr den Glauben an ihre eigene fotografische Sprache.
Vielleicht ist Ella Burmeister ihrer Zeit voraus. Immerhin erfährt sie (im Roman) eine posthume Würdigung, indem viele ihrer Bilder als Zeitzeugen der Architektur der 1920er Jahre und der Menschen, die in diesen Gebäuden wohnten, lebten und arbeiteten, ausgestellt werden.
Lesetipp + Architekturtour-Tipp: Dieses Buch ist besonders lesenswert für alle, die sich für Architektur interessieren und einen Bezug zur Stadt Frankfurt haben. Ein Teil der Bauten aus dieser Zeit ist noch zu besichtigen, also am besten das Buch lesen und währenddessen oder im Anschluss einen Architekturtrip durch die Bauten des Neuen Frankfurt machen. Dabei die Menschen genau beobachten und was sie in und mit der Architektur machen. Vielleicht auch mal das Smartphone zücken und ein paar Fotos machen - natürlich mit Menschen.
Florian Wacker (2024): Zebras im Schnee. Berlin Verlag, Berlin/München.
Architektur für Menschen – damals wie heute
Sie greifen auf Zeitdokumente zurück und spiegeln den Zustand der Gesellschaft in den 1920er Jahren wider. Beide Protagonistinnen hatten es in ihrer Zeit mit ihren Ansichten schwer. Ihre Überzeugung, den Menschen als handelndes und fühlendes Wesen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit zu stellen, stieß auf wenig Verständnis. Doch ihre Botschaften sind auch heute noch aktuell: Sowohl im architektonischen Entwurf als auch in der Architekturfotografie kommt der Mensch mit seinen Bedürfnissen oft zu kurz. Normen und Vorschriften, Zeitdruck, einflussreiche Investor:innen mit starken finanziellen Interessen, Überlastung, viel Bürokratie und vielleicht auch mal die Eitelkeit einzelner Berufsgenoss:innen erschweren diesen menschenzentrierten Blick auf die Architektur.
Doch Architektur ist kein Selbstzweck. Sie soll dem Menschen dienen. Vielleicht sollten wir alle am Bau Tätigen dieses Versprechen - ähnlich dem hippokratischen Eid der Ärzt:innen - zu Beginn unserer Laufbahn ablegen und uns immer wieder daran erinnern. Und damit dem Dialog zwischen dem Raum und unserem eigenen Erleben mehr Bedeutung einräumen.
Welche Bücher kennst du, in denen die Beziehung von Mensch und Raum eine besondere Rolle spielt?